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Nachtzug nach Lissabon
2007-01-22 @ 12:14 a.m.

Menschen um die Fuenfzig, sollte man meinen, sind berechtigt, unbeirrbar friedlich und arriviert vor sich hinzuexistieren ohne den Zwang zur Interessantheit, zur ewigen Veraenderung, zu einem erfuellten Leben voller Leidenschaft, dem die armen jungen Menschen gnadenlos unterworfen sind und hinter dem mehr oder weniger die Fratze des Kapitalismus hervorgrinst, der Vernunft und Genuegsamkeit vollkommen ausrotten will, damit den Menschen kein Medikament gegen ihre Kaufimpulse mehr zur Verfuegung steht. Aber da passt es natuerlich auch ins Bild, dass der Zustand der Arriviertheit mit allen Mitteln als unertraeglich dargestellt werden muss.

Natuerlich koennen Menschen um die Fuenfzig absolut machen, was sie wollen, und wenn es einem von ihnen etwa einfaellt, seinen Job aufzugeben und als Animateur in einem Robinsonclub abzufangen, sage ich natuerlich nichts anderes als 'Mehr Macht fuer dich, Mensch um die Fuenfzig!' mit aller mir zur Verfuegung stehenden Herzlichkeit. Wenn mir aber in einem Bestsellerroman ein Mensch um die Fuenfzig vorgestellt wird, der Altphilologe ist und seinen Beruf als ambitionierter Gymnasiallehrer hinwirft, weil ihm eine Portugiesin in einem roten Ledermantel eine Telefonnummer auf die Stirn geschrieben hat - und weil ihn die absolut unerheblichen Minima Moralia fuer Arme eines unbekannten, vorgeblich genialen portugiesischen Schriftstellers bis in den Kern seines Seins bewegen - empfinde ich das als einen Anschlag auf den letzten Rest Wuerde, der den Um-die-Fuenfzigjaehrigen in dieser seelenmordenden jugendbesessenen Zeit noch geblieben ist. Das fluestert fies: Um-die-Fuenzigjaehrige, es ist unnormal, dass ihr euch in eurem Leben eingerichtet habt, der allerlaeppischste, miserabelst ausgedachte Anlass muss genuegen, eure Umstaende komplett in Frage zu stellen und die haertesten Konsequenzen zu ziehen. Dass der gemeine Mensch um die Fuenfzig kaum in der Lage sein wird, seinen Job hinzuwerfen und seine zusammengekratzten Pflegeheimplatz-Oere fuer unbegrenzte Aufenthalte im romantischen Ausland zu verjuxen, fuegt dem Hohn dieses hoehnenden Ratschlages noch den Hohn hinzu, dass er sich beim besten Willen nicht daran halten kann. Deshalb spielt dieses Werk auch in der Schweiz, weil das ja bekanntlich so ein reiches Land ist. Aber er kann immerhin traeumen, der Mensch um die Fuenfzig, wie es waere, einmal etwas ganz verruecktes zu tun. Hach.

Literarisch ist es die 'Felix der Hase'-Masche: um ueber jemanden innerhalb seiner normalen Lebensumstaende etwas zu berichten, muesste man Geist investieren und dann waere das ja auch ueberhaupt keine Geschichte, also verfrachtet man ihn in ein exotisches Land und haeuft dort Klischees und Interessantes an: Bei Felix spazieren Franzosen mit Baguettebroten unter dem Arm um den Eiffelturm, eine Forscherin hat auf ihrem Forschungsboot 'viele seltsame Instrumente'; hier spielen ruestige portugiesische Alte Schach und tun andere ruestige Dinge, in jeder Menge oh-so-grosszuegiger, nur ein ganz klein wenig verfallener Stadvillen spielt Geld in keiner Weise eine Rolle. Die Charakterautomaten gleiten wie auf Schienen durch die noetigen Begegnungen und Handlungen - dieser Mundus braucht gerade zwei Tage, um in der Millionenstadt Lissabon seine Suche nach den Spuren des vorgeblich genialen Minima-Moralia-fuer-Arme-Autors (VGMMFAA) auf die richtige Bahn zu bringen, und alle Beteiligten haben offenbar gerade auf ihn gewartet, um ihm ihr Innerstes zu oeffnen. Er begegnet der Schwester des VGMMFAA gerade erstmalig in ihrem ach-so-grosszuegigen Stadthaus, das sie seinerzeit mit dem VGMMFAA teilte, und schon weiss er Bescheid: klar, die arme Frau wohnt seit dreissig Jahren allein hier und hat sich eine Scheinwelt geschaffen, in der die Zeit stillsteht (nach allen Informationen, die er besitzt, haette sie bis vor zwei Jahren auch noch Bardame in einem Swingerclub sein koennen), und das ist dann natuerlich auch so, und nach ein paar weiteren Begegnungen gelingt es ihm durch ein paar beherzte Worte, sie aus der Scheinwelt zu befreien und dem Leben wieder zuzufuehren.

Dabei moechte dieses Werk kein Groschenkrimi oder Arztroman sein, sondern eine geistige Reise.
Die Reise unternimmt ein Um-die-Fuenfzigjaehriger, der sein eigenes Handeln wiederholt scheu und liebevoll durch das Adjektiv 'verrueckt' charakterisiert, der, wenn ihm danach ist, in einem verfallenen Lyceum kampiert, an dessen Waende er Bilder aus einem Bildband ueber Persien geklebt hat und das er sich selbst und anderen gegenueber als 'Persien' bezeichnet, der, wie ein hypothalamischer Jugendlicher ploetzlich aufgestoert von nichtnachvollziehbaren Gedanken ('Ich verliere mich'), Kurzschlusshandlungen begeht und sich Sorgen macht, dass er einen oeffentlichen Platz in seiner Heimatstadt Bern 'nicht beruehren' kann. Wenn dem so ist, ist allen mehr damit geholfen, wenn die Menschen in ihren finsteren Seelengefaengnissen verbleiben, finde ich. Natuerlich kann es sein, dass sich am Ende herausstellt, dass er an Schilddruesenunterfunktion leidet - irgendetwas in der Art einer verborgenen Krankheit wird vorbereitet, aber ich werde es nie erfahren, denn ich habe nach drei Vierteln endlich aufgehoert zu lesen, weil es mir zu und zu langweilig war. Vermutlich hat er auch so ein Aneurysma wie der VGMMFAA.

Zwischendurch sind immer Leseproben aus dem Werk des VGMMFAA eingestreut, die genau an dem kranken, was der VGMMFAA selbst an der Welt der Sprache kritisiert: sie sind so ausgelatscht und geronnen, die in ihnen ausgedrueckten Sentiments sind so commonplace, tun so dermassen keinem weh, dass man wirklich nicht weiss, ob die vielen Worte ueberhaupt noch 'Ausdruck von Gedanken' sind. Aber es kommt mehrmals der Ausdruck 'rhapsodisch' vor.

1. Manchmal glaube ich, die Menschen haben ein geheimnisvolles inneres Leben, dann wieder glaube ich es nicht. Ob ich es glaube haengt vom Wetter ab - Regen: inneres Geheimnis, Sonne: keins. (Ja. Wenn die Sonne scheint, habe ich immer gute Laune. Ich weiss ja nicht, wie es euch damit geht.)
2. Die Sprache taugt nichts mehr, alle sagen immer das gleiche (sic!) (Aber die Sprache ist natuerlich nicht das Problem, das kommt dem Armen nur so vor.)
3. Die Menschen nehmen mich soundso wahr, ich bin aber ganz anders (viel besser). Wenn man andere wahrnimmt, spielt nicht nur ihr Aeusseres eine Rolle, sondern auch die eigenen Erwartungen und Ideen.
4. Man kann jeden Moment sterben.
5. Menschen sind einander fremd. Muedes Schnellzug/Reisende-Gleichnis.
6. Mein Vater war schlimm, er wollte mir nicht gestatten, mich wichtig zu nehmen.
7. Im tiefsten Inneren ist man unverstehbar. Das, was man dort zu haben meint, bzw. bei anderen waehnt, das denkt man sich nur. 'Ist die Seele ein Ort von Tatsachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die truegerischen Schatten unserer Geschichten?' ( Gegen solche Scheinfragen und die Verwendung des Wortes 'Geschichten' bin ich wirklich allergisch.)
8. Es ist abwegig, dass Gott einem Vergebung abverlangt fuer Tyrannen und Scheusalsmenschen. Die ganze Bibel ist eine Zumutung. Wieso darf man Gott nicht widersprechen? Es ist unertraeglich, dass Gott alles sieht. Seine 'ungezuegelte Neugierde und abstossende Schaulust' sind seelenzerstoerende Folter. Es waere langweilig, unsterblich zu sein, deshalb ist das Paradies die Hoelle. (Take that, god.)
9. Als ich etwas getan habe, was den anderen schlecht erschien und zu dem ich mich aber ueberwinden musste, weil ich wusste, dass es im Sinne der medizinischen Ethik war - habe ich da vielleicht im Geiste auftrumpfender Eitelkeit gehandelt? (so Zen, baby)
10. Es ist paradox, sich vor dem Tod zu fuerchten, weil man nicht Klavierspielen gelernt hat. (In so kondensierter Form gefaellt mir dieses Urteil allerdings.)
11. Enttaeuschungen lehren einen etwas ueber seine eigenen Erwartungen, deshalb sollte man sie willkommen heissen.
12. Als Jugendlicher haelt man sich nicht fuer sterblich, spaeter dann ja.
13. Wir nehmen uns selbst zu wichtig.
14. Man ist im Inneren zeitlich und raeumlich ausgebreitet. Als Erwachsener hat man in vielem die gleiche Furcht, die gleiche Schwaermerei, die gleichen Bedrueckungen wie als Kind. An anderen Orten ist man ein anderer Mensch, deshalb sind Leute, die nicht reisen koennen, verkrueppelt. (In seiner vollkommenen Gemeinplaetzigkeit reizt mich das alles unglaublich zum Widerspruch.)
15. Oh, Vater, wir haben uns niemals ausgesprochen. Du warst immer so hart. Ich habe dich nie weinen sehen. (Dass Weinen ein Tribut sein soll, den man jemandem abverlangen kann, so ein unverschaemter Gedanke.)
16. Es hat keinen Sinn zu fragen, wie lang ein Monat ist. Man muss fragen: Wie kann ich ihn am besten ausnuetzen. (Genau das muss man eben nicht fragen. Aber was will man erwarten.)
17. Oh Mutter, du hast mich mit deinen unausgesprochenen Erwartungen erdrueckt.
18. Eigentlich braucht man sich nicht vor Einsamkeit zu fuerchten. Und wenn man dann so stolz und frei allein seine Kreise zieht, kommen die anderen gleich angelaufen und wollen deine Freunde sein.
19. Ein Memento Mori ist nuetzlich. Es ermahnt uns, unser Leben intensiver zu leben.

Undsoweiter. Ist das nicht alles direkt aus der Hoerzu-Psychoratgeberecke? Und diese ungesunde Fixation eines aelteren Mannes auf unbemaentelte Vorwuerfe gegen seine Eltern, denen er immerhin Reichtum und eine vernuenftige Berufsausbildung verdankt! Das soll die Gewalt haben, einen reifen Altphilologen aus seinem der Altphilologie gewidmeten Leben zu reissen? Die ebenso glueckliche wie unglueckliche Wahrheit ist ja, dass sich so ein Altphilologe auch durch Worte, die ernsthaft die Gewalt einer Dampflokomotive haetten, nicht aus seinem Leben reissen liesse. Aber wahr ist leider auch, dass viele Menschen dieses fundamental alberne Werk gutheissen. (Etliche der Charaktere haben einen Hintergrund als Widerstandskaempfer gegen den portugieschen Diktator Salazar - das ist korrekt und alles, aber albern bleibt albern. ) Wir haben es von zwei Seiten als begeistertes Geschenk erhalten. Gluecklicherweise kann ich hier ja ganz heimlich meine verletzende Meinung darueber schreiben. Wie es wohl waere, in eine Gesellschaft zu kommen, in der niemand sagt: Oh, eine Kleine Prinz-Tasse - wie suess!

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Koennte ich natuerlich auch selber tun, aber gerade eben habe ich diesen irrsinnigen Armkrampf...

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